Helgi Seemann – Reflexionen
Unter dem Titel Reflexionen vereint Helgi Seemann eine Reihe von Fotografien, die er als „Aquarellfotos“ bezeichnet. Diesen Namen der Fotoarbeiten bezieht der Künstler auf die Gemeinsamkeit, dass sie alle am Wasser entstanden sind; aber auch ihre unregelmäßigen Konturen und die Arbeit mit der Farbe scheinen eine Brücke zu schlagen zwischen der Fotografie und dem Aquarellieren – zwei künstlerischen Techniken, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 
Helgi Seemanns Arbeiten entstehen als digitale Fotografien, die nur minimale nachträgliche Korrekturen erfahren. Die Fotografie dient hier dem Festhalten der farbigen Erschei­nungen auf dem Wasser. Den Bildern liegt ein Interesse an visuellen Eigenarten zugrunde, sie sind aber zugleich auch eine Auseinandersetzung mit den physikalischen Gesetzen der Optik. So sind die Reflexionen im Wasser zwar ein Zerrspiegel, aber erzeugen dennoch ein Abbild der Situationen am Ufer. Sie werden erfasst durch das Auge der Kamera, in dem wie im natürli- chen Auge eine Linse die Lichtstrahlen bündelt und auf eine sensible Oberfläche wirft. Denkt man an den Vorgang im menschlichen Sehapparat, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass dort das Bild zuerst verkehrt herum projiziert und seine Ausrichtung nachträglich vom Gehirn korrigiert wird – so ähnlich, wie Helgi Seemann auch die Bilder der Wasseroberfläche kippt und damit eine neue, visuell aufregendere Welt schafft. 
Die auf den Wellen gespiegelten und gebrochenen Bilder sehen anders aus als die Gegenstände an sich. Das opake Wasser lässt Farben intensiver und kontrastreicher wirken. Optisch scheint das Abbild daher reizvoller zu sein als die Realität. Die Brechung des Lichtes an der Struktur der Wasseroberfläche sowie der technisch bedingte flache Aufnahmewinkel erzeugen nicht selten komische Effekte bei den abgebildeten Menschen und Tieren. 
Das eigentliche Potenzial dieser Technik tritt jedoch in den ungegenständlich wirken­den Bildern zutage – in der Verfremdung, die aus den Detailvergrößerungen entsteht. Hier überlagert die Wasseroberfläche mit ihrer jeweils einzigartigen Beschaffenheit die reflektierten Motive. Widergespiegelte Kanten werden so scheinbar weich und biegsam, widergespiegelte Farbflächen beginnen zu vibrieren und zeigen plötzlich ein ganzes Spektrum von Nuancen. 
Die Ausschnitte von Farben und Formen, die von Helgi Seemann in unterschiedlichen Bildformaten präsentiert werden, führen ihn interessanterweise zum Nachvollzug wichtiger bildlicher Formeln, die paradigmatisch die Meilensteine der bildenden Kunst geprägt haben. So erinnern der in flirrenden Tönen festgehaltene Abend am Ufer und eine im funkelnden Wasser treibende Blüte an Gemälde der klassischen Moderne. Ein Sinn für ungegenständliche Kompositionen sowie die Verneigung vor großformatigen farbigen Flächen vergegenwärtigen das 20. Jahrhundert. Verzerrungen, die auch mit einer Rakel auf bemalter Leinwand erzeugt sein könnten beziehungsweise die an digitales Glitching erinnern, sind dem 21. Jahrhundert zugehörig. 
„What does water look like?“(1) – Welche Gestalt hat Wasser, fragte sich die amerikani­sche Künstlerin Roni Horn – wohl zu Recht. Der Narziß sah nur sich selbst und ertrank. Wer die eigene Schönheit im Spiegel prüft, weiß meist sehr genau um deren Vergänglichkeit. Sich den Spiegel vorzuhalten bedeutet, nach Einsicht zu forschen. Die Reflexion ist Spiegelung und Wahrheitssuche zugleich. Roni Horn sagt: „Wenn du Wasser betrachtest, siehst du, was du für deine Reflexion hältst, aber es ist nicht eine Reflexion von Dir. DU bist eine Reflexion des Wassers.“(2) Auch Helgi Seemann fragt danach, was wir sehen. Seine Arbeit scheint eine Suche nach dem zu sein, was vielleicht wahrhaftiger ist als das, was unsere Augen normalerweise wahrnehmen. Das Wasser wird dadurch zu mehr als einem Spiegel. Die Bilder der Reflexionen zeigen das Schöne, das Interessante und das Poetische. Sie sind einmal bewegt, fast unruhig, und in anderen Momenten wieder still und von pastoraler Klarheit – so wie der Fluss als Gleichnis des Lebens, auf dessen bunte und einnehmende Facetten Helgi Seemanns Bilder zu blicken scheinen. 
(1) Zitat der Künstlerin Roni Horn (*1955), aus: Roni Horn, Saying Water, 2012, Louisiana Channel, online, URL: https://channel.louisiana.dk/video/roni-horn-saying-water 
(2) Ebd.

Fine Kugler 
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Helgi Seemanns Fotozyklus „Aquarellfotografie“
Wir sind umgeben von Wasser, diesem Element, das so wichtig für unsere Existenz ist wie die Sonne und der Wind. Flüsse, Seen, die Ozeane faszinieren die Fantasie der Menschen seit jeher. Viele Maler nahmen und nehmen sich des Themas an und in den Museen der Welt finden wir zahlreiche Kunstwerke, die sich mit dem Wasser befassen. Es gibt so unendlich viele Blickwinkel, Wasser zu betrachten, sogar Regentropfen und -pfützen können da zu Kunstwerken werden – wenn wir nur richtig hinschauen.
Helgi Seemanns Fotos nehmen uns mit auf eine faszinierende Reise in eine unglaubliche Welt voller Farben. Auf dem fließenden Wasser werden die Landschaften zu Zauberwelten, entführen unsere Fantasie in andere Dimensionen. Ein Sonnenaufgang, der alles in tiefrotes Licht taucht, Schnee auf den Bäumen und den Wiesen, Spaziergänger, eine Ente, ein Blatt, jedes kleine Detail verändert die Wirkung der Spiegelung. Die Fotos wirken häufig wie gemalt, ähneln den Aquarellen des Impressionismus oder den Moorbildern der Worpsweder Maler und man muss schon genau hinsehen um zu erkennen, dass diese Bilder doch Fotografien sind und im wahrsten Sinn des Wortes „auf dem Kopf“ stehen.
Wir staunen über die unglaubliche Farbenvielfalt der Flüsse, die intensiven Farben wie das Gold und das Blau berauschen uns. Blätter, die in diesem Farbenrausch treiben, werden zu Schiffen, die uns mitnehmen auf eine Reise durch diese Farbenvielfalt. Kaum zu glauben, dass wir hier Wasser vor uns haben und das ist keine Fiktion sondern die Schönheit und die Vielfalt unser nächsten Umgebung – wir müssen sie nur sehen.
Bremen, im April 2014
Waltraut Linke